Ich habe sie länger nicht gesehen, die alte Dame vom Balkon gegenüber. Die Menschen in seiner Nachbarschaft begegnen einem immer wieder in geordneter oder chaotischer Regelmäßigkeit. Der eine läuft wie ein Uhrwerk jeden Morgen zur selben Zeit an meinem Fenster vorbei und schiebt seine Gehhilfe energisch vor sich hin, eine andere rollt mit ihrem Rollator gemächlich immer in der Mittagszeit zu einem nahen Supermarkt und bleibt kurz vor meinem Fenster zum Verschnaufen stehen. Gegenüber meines Zuhauses ist ein Seniorenwohnheim. Kein Altersheim, es sind Ein bis Zwei-Zimmer-Wohnungen, die Menschen über 60 anmieten können. Hier können sie selbstbestimmt ihren letzten Lebensabschnitt verbringen. Alle haben einen kleinen Balkon zur Straße und die aktiveren nimmt man wahr, wenn sie auf dem Balkon stehen und sich um ein paar Balkonblümchen kümmern. Der nicht so aktiven wird man gewahr, wenn durch die Vorhänge das Licht ihrer großen Fernsehr flimmert.
Die besagte Dame von gegenüber stand immer auf dem Balkon und schaute sehnsüchtig in die Straße, mehr in die Ferne, in eine nur ihr bekannte Heimat. Manchmal habe ich sie auch unterwegs auf einer Bank sitzen sehen. Ich habe sie immer gleich erkannt an ihrem Lockenmop auf dem Kopf. Mich schien sie nicht zu erkennen, ihr Blick ging immer durch mich hindurch. Sie sprach auch nicht unsere Sprache, nur gebrochen. Sie kam wohl aus Bulgarien und war im Alter ganz ohne Angehörige. Ich habe sie immer nur allein gesehen. Ein paar Jahre lang. Jetzt habe ich gestern nach drüben geblickt und mit Schrecken festgestellt, dass die Vorhänge weg sind und auch der Balkonkasten. Sie ist von uns gegangen, die Dame auf dem Balkon. Wieder ist ein Appartment in dem Seniorenhaus frei geworden. Endstation Sehnsucht.