Den ersten Todesfall als Erwachsener, in der eigenen Familie, erlebte ich als junger Vater vor gut 25 Jahren. Mein Sohn war damals nicht einmal ein halbes Jahr alt, als seine Großmutter verstarb. Sie war noch jung, gerade mal 53, der Krebs kündigte ihren Tod genau 3 Monate vorher an. Ein Anruf aus der Klinik, in die sie wegen starker Schmerzen eingeliefert worden war. Die Ärzte hielten die schlechten Nachrichten zurück und weihten nur die Tochter ein. Ich hatte schon beim Anruf eine fürchterliche Ahnung. Die letzten Tage haben wir meiner Schwiegermutter rund um die Uhr im Krankenhaus Gesellschaft geleistet. Aus heutiger Sicht ein Kraftakt, damals eine Selbstverständlichkeit, die man als junger Mensch vielleicht leichter leisten kann. Man kennt das Ende noch nicht. Und das danach. Trauer in verschiedenen Phasen, mit verschiedenen Gefühlen. Wut war nicht darunter.
25 Jahre später verstarb mein Schwiegervater, anders als die Mutter in einem biblischen Alter, nicht mit 53, sondern mit 87. Auch hier kündigte sich der Tod an, nicht in Monaten, aber über die Jahre. Nicht durch Krebs, aber durch Abnutzungserscheinungen, Demenz, das Lebenslicht erlosch langsam und doch war es dann eine Überraschung, als der letzte Tag kam. Obwohl man die ganze Zeit irgendwie damit gerechnet hatte, kam es dann unvermittelt. Warum an diesem Tag, warum nicht noch ein bisschen länger? Gerade hatte er sich von dem letzten Krankenhausaufenhalt gut erholt, er lernte sogar wieder laufen, nachdem endlich ein Physiotherapeut zu ihm nachhause kam. Die Kräfte schwanden, aber es gab noch lichte Momente. Und dann war es aus. Die Wohnung musste gekündigt und aufgelöst werden, die Pflegehilfsmittel entsorgt oder zurück gegeben werden. Das zog sich hin und jede Handlung, jeder Anruf erinnerte an die Lücke, an das Fehlen des lieben Menschen. Danach zuckte meine Frau und ich noch zusammen, wenn das Festnetztelefon zuhause unverhofft klingelte. Der Opa hatte es zuletzt fast als einziger benutzt. Wer ruft heutzutage noch über Festnetz an, alle nehmen das Handy! Auch hier gab es Trauer, nach der erschöpfenden jahrelangen Pflege auch ein gewisses Gefühl der Leere und Erleichterung, der Druck wich langsam, die Traurigkeit blieb. Aber Wurt gehörte nicht zu den Gefühlen.
Nun ein halbes Jahr später schlägt bei uns die Schwägerin auf. Kurz vor Jahresende hieß es noch, sie sei krebsfrei, endlich nach 5 Jahren hin und her, nach fatalen Diagnosen, Operationen und Chemo. Wenn nur der Husten nicht wäre, der sie so quälte und einfach nicht weggehen wollte. Jetzt im Neuen Jahr ergab eine Untersuchung der Lunge, dass sich dort ein Geschwür ausgebreitet hat. Was man ihr nicht erzählt hatte, war, dass es in der Lunge die ganzen Jahre über dunkle Stellen gegeben hatte. Man hatte sie beobachtet und keine Veränderung festgestellt. Man hatte daher es nicht für nöitg befunden, meine Schwägerin darüber in Kenntnis zu setzen. Vor der Untersuchung hatte man ihr noch zugeraunt, dass es sich zu 99% nicht um Krebs handeln würde und jetzt bricht eine Welt zusammen: Es sieht so aus, dass sich ein Monster all die Jahre schlafend gestellt hat und jetzt aufgewacht ist. Wie man es zähmen möchte und ob das überhaupt (noch) geht, darüber hat man meine Schwägerin bisher nicht in Kenntnis gesetzt, da die Spezialisten des geheilten Krebs dachten, die Pneumologen würden sich eine Therapie ausdenken und die letzteren dachten, die ersteren seien zuständig wie all die Jahre zuvor. Wertvolle Zeit wurde verplempert und es stellt sich die Frage, wie es weitergeht. Natürlich werden wir ihr helfen, aber die vorherigen Erfahrungen aus dem Leben sind zwar verwunden, aber nicht vergessen. Zumal die Episode mit dem Vater nicht wirklich soweit zurück liegt. Diesmal mischt sich Wut in die Gefühle. Zum ersten Mal. Das Maß ist voll. Man mag sich dafür schämen, aber es gibt wohl wirklich eine Leidensschwelle, die wenn erreicht, auch dieses Gefühl auslösen kann. Darüber zu sprechen oder zu schreiben hilft auf alle Fälle. Darum finden sich auch diese Zeilen hier.
Man glaubt, sich auf den Tod eines Angehörigen oder lieben Menschen vorbereiten zu können, aber leider ploppen im echten Leben dann ganz unerwartete Gefühle auf und Erinnerungen kommen hoch, die man in sich vergraben hat und eingedämmt zu wissen glaubte. Diese Erinnerungen können einen traumatisch wie ein Tsunami überrollen und handlungsunfähig machen. Diese kochende Wut ist gefährlich und kann sich auch gegen noch lebende liebe Angehörige wenden. Dann sollte man sich die Situation begreifbar machen und womöglich eingestehen, dass man Hilfe braucht. Sport, Arbeit, Musik, ein Gespräch mit Freunden oder Therapeuten können helfen, den Knoten zu lösen und wieder eins mit sich zu werden. Trauer ist ein ganz normales Gefühl, die Wut aber ist nur destruktiv und wenig hilfreich. Hat man das verstanden, dürfte es einem bald besser gehen. Ich wünsche es mir und Ihnen, wenn Sie sich in einer ähnlichen Situation befinden.